+++ Leseproben +++




Kleine Furcht

Kapitel 1

Theo Kreitz verlässt hastig ein Zusammensein, das für ihn veranstaltet worden war. Er ist ein vierschrötig gewordener, älterer Mann mit dichtem grauem Haar. So wie er da steht, ist er Ergebnis vieler Arbeitsjahre, des Sitzens und Schreibens, des Zuhörens und Aufschreibens, des Zusammenfassens und Nachdenkens, tausender Besprechungen und Anweisungen, guter und schlechter Tage, auch vieler guter Essen und Getränke, die durch ihn hindurch flossen. Es ist ein Abschiedsessen für Kreitz. Nach 44 Jahren Arbeit für ein und denselben Arbeitgeber hatte er gekündigt.

Er fühle sich im Augenblick nicht gut, sagt er zur Begründung seiner Hast, während er sich seinen Mantel überzieht. Tatsächlich ist er wie betäubt, so dass er die Erklärung, er fühle sich nicht gut, mit Mühe über die Lippen bringt. Zuvor ließ man ihn in einem Saal hochleben, überreichte dem Scheidenden Geschenke, trank auf sein Wohl. Er sei mit dem Verband, für den er gearbeitet habe, wie verwachsen, hieß es. Der Verband habe ihm viel zu verdanken. Kreitz bedankte sich für die wohlwollenden Worte, richtete im Gegenzug einige Worte an die Gäste: Er habe vieles erlebt, einiges gelernt und viel mehr vergessen, hinterlässt er leger gesprochen. Nach dem Abschiedsessen wechseln seine Nachbarn am Tisch. Jeder und jede möchte mit ihm, bevor der Abend zu Ende geht, einige Sätze wechseln und mit ihm anstoßen, ihm das Beste im weiteren Lebenslauf wünschen. Frühere und gegenwärtige Kolleginnen und Kollegen sind darunter, Parlamentsabgeordnete, die den Kreitz als tüchtig kennengelernt hatten. Einige Freunde waren geladen worden.

Schließlich sitzt er einen Augenblick alleine an seinem Tisch. Ein jüngerer Mann setzt sich vor ihn. Er kennt den Burschen aus der Distanz, schaut ihm freundlich entgegen. Der schaut den Älteren prüfend an, sagt in einem Kreitz gehässig erscheinenden Ton: „Verwachsen mit dem Verband sollen Sie sein. Eingewachsen wie ein kranker Nagel stimmt wohl eher. Es wurde Zeit, dass Sie hier verschwinden, Kreitz.“ Er blickt den Älteren, wie der meint, mit Abneigung in den Augen an: „Ein dreckiger Zigeuner wie Sie hatte unter uns nun wirklich nichts verloren.“
Der Jüngere spricht diese Sätze ruhig aus. Klar und deutlich, nichts Verwaschenes im Ausdruck. Angetrunken ist er nach Kreitz Eindruck nicht. Er bleibt höflich und bürgerlich beim Sie. Er fährt fort: „Tatsache ist, dass ein dreckiger Zigeuner sich in einen angesehenen Verband gemogelt hatte. Das hätte nicht passieren dürfen. Wie Sie das angestellt haben, weiß ich nicht.“

Kreitz will etwas entgegnen, ihm versagt die Stimme. Er schaut über seinen Tisch und den Kerl hinweg in den Saal. Wenige Meter entfernt steht Dahmen, ein Büroangestellter, der vor ihm ausgeschieden ist. Eine junge Frau geht vorbei, stutzt, geht weiter. Dahmen beobachtet ihn und den Kerl, dreht sich um, entfernt sich.

„Schon mein Großvater“, erklärt der Jüngere, „wollte mit Ihrer Sippe und vor allem mit Ihrem Vater aufräumen. Er kam aber nicht dazu. Das ist nicht vergessen.“

Als er sieht, dass Kreitz ihn verblüfft mit geweiteten Augen anschaut, während die Schultern sacken, schickt er hinterher: „Man hätte Sie viel früher rausschmeißen sollen. Leute wie Sie taugen nicht. Denken Sie immer daran: Wir wissen über Sie Bescheid. Auch im Verband.“ Er steht auf, schiebt seinen Stuhl zurück, beugt sich Kreitz zu, als wolle er noch etwas sagen, dreht sich jedoch abrupt um und verlässt den Tisch, an welchem Kreitz sitzt.

Niemand außer Kreitz scheint zu begreifen, was sich da abspielt. Gespräche werden nicht unterbrochen, es wird gelacht, geprostet, so wie das während gelingender Abende ist. Man merkt kurze Zeit später, dass sich Kreitz´ Verhalten ändert, dass er blass geworden ist, abwesend wirkt. Es sei Zeit für ihn, nach Hause zu fahren und zu Bett zu gehen, antwortet er auf eine besorgte Frage. Ein Freund, Johannes Pflüger, begleitet ihn zur wartenden Taxe. „Bist du in Ordnung, Theo?“, fragt er.

„Es ist alles in Ordnung“ antwortet Kreitz, „ich bin offenbar doch nicht so auf dem Damm, wie ich dachte. Das ist alles.“

„Soll ich mit dir fahren?“, fährt Pflüger fort.

„Ist wirklich nicht nötig“, entgegnet Kreitz. „Hab Dank, ich melde mich morgen bei dir.“  (...)

Klaus Vater: Kleine Furcht - Roman
Hardcover, 128 Seiten, 19,80 €, Oktober 2023, ISBN 978-3-949979-45-3 

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Maria und Eusébio

02 Igreja de Santo Condestável (Nach Lissabon)

Bereits in der Abflughalle war er mir aufgefallen. Ich war nervös. Mein erster Flug. Eine ungewisse Zukunft in einem mir fremden Land.

Fast dieselbe Hautfarbe wie ich, dachte ich, als ich ihn sah. Nicht ganz Moçambique, aber auch nicht Portugal. Irgendwo dazwischen. Nicht wie die anderen, die auf das Flugzeug warteten. Die weißen Portugiesen. Offiziere, Geschäftsleute, die Reichen, die Wichtigen. Fast ausschließlich Männer.

Ich fühlte mich so allein, so klein. Diese vornehmen Menschen, die sich so sicher bewegten. Die wussten, was sie taten und sagten. Ich gehörte nicht hierher.

Er hatte ebenfalls einen Anzug an, sah darin aber aus, als wäre er verkleidet. Auch ich kam mir wie verkleidet vor. Herr da Maia hatte mich neu einkleiden lassen. „Damit ich mich nicht für sie schämen muss“, hatte er meiner Mutter geschrieben und einen Scheck beigelegt.

Seine großen, ausdrucksvollen Augen. Er war nervös wie ich. Ich beobachtete ihn verstohlen. Mehrmals hintereinander knöpfte er seine Anzugsjacke auf, dann wieder zu. Er strich sich über die Haare, holte einen Kamm aus der Innentasche des Jacketts und kämmte sich. Sah sich dabei in einer Fensterscheibe an, benutzte die Fensterscheibe als Spiegel.

In welcher Lissabonner Familie wird er wohl arbeiten?, fragte ich mich. Und als was? Als Fahrer oder als Hausdiener? Gärtner vielleicht? Zu weiteren Überlegungen reichte meine Phantasie nicht aus. Wie viele Angestellte in so einer vornehmen Familie arbeiteten? Ich wusste es nicht. 

Im Flugzeug kam ich neben einem älteren Mann zu sitzen, der kurz aufschaute und sofort wieder wegblickte, als er mich gesehen hatte. So, als ob es sich nicht lohnte, mich eines weiteren Blickes zu würdigen. Er hatte registriert, dass ich nicht wichtig war. Nicht für ihn. 

Ich hatte einen Sitz in der Mitte. Der Platz links von mir blieb vorerst frei. Bis er kam. Ich sah ihn den Gang entlang auf mich zukommen und wusste, oder habe ich mir das später zurechtgelegt?, dass er nicht weitergehen, sondern neben dem leeren Sitz stehen bleiben würde.

Sein verlegenes Lächeln, als er sich schließlich neben mich setzte. Ich sah es aus den Augenwinkeln, traute mich nicht ihn anzuschauen. Er grüßte schüchtern. Ich erwiderte seinen Gruß ebenso schüchtern.

Nach dem Anschnallen wagte ich es zunächst nicht, meinen Arm auf die linke Armlehne zu legen. Auf die rechte erst recht nicht. Als ich endlich den Versuch wagte, hatte er gleichzeitig seinen rechten Arm auf die Lehne gelegt. „Entschuldigung“, kam es prompt von uns beiden. Ich nahm meinen Arm zurück, er den seinen. Starr blickte ich auf den Sitz vor mir, während ich überlegte, wie ich ein Gespräch mit ihm anfangen könnte.

Nach ein paar Minuten sah ich vorsichtig nach links, um herauszufinden, wo sein Arm sich befand. Er bewegte seinen Kopf ebenfalls in meine Richtung. Als ich das bemerkte, blickte ich sofort wieder nach vorn.

Ein paar Minuten später bewegte sich sein Kopf wieder in meine Richtung. Jetzt konnte ich mich nicht mehr halten. Ich prustete los. Ich lachte und lachte, als ob ich mit dem Lachen meine Schüchternheit in Moçambique zurücklassen könnte.

Ich hörte erst wieder auf, als der Mann rechts von mir indigniert bemerkte: „Es gibt Menschen, die nicht zu ihrem Vergnügen unterwegs sind. Ich muss arbeiten. Ich bitte nachdrücklich, das zu berücksichtigen.“ Während er das sagte, hatte er ohne aufzublicken weiter in seinen Papieren geblättert, die er auf dem Schoß liegen hatte. 

„Entschuldigung“, sagte ich, dieses Mal nach rechts gewandt. Und – um nicht wieder zum Lachen genötigt zu werden – zu dem Mann zu meiner Linken: „Ich heiße Maria.“

„Eusébio“, sagte er und verbeugte sich etwas in meine Richtung. „Sie dürfen Ihren Arm ruhig auf die Armlehne legen“, fügte er hinzu.

„Danke“, sagte ich. „Werden Sie auch in Lissabon arbeiten?“ Und, als er nicht gleich antwortete: „Ich habe eine Arbeit als Kinder- und Hausmädchen bekommen.“

„Arbeiten soll ich auch, ja“, sagte Eusébio. „Als Fußballspieler.“

„Als Fußballspieler?“, fragte ich ungläubig. „Bekommen Sie Geld fürs Fußballspielen?“

„Das haben sie meiner Mutter versprochen. Sie hat schon einen Vorschuss bekommen. Wir mussten ja einen Anzug und einen Koffer kaufen.“

„Bei welchem Verein werden Sie spielen?“

Wieder zögerte Eusébio mit seiner Antwort.

„Ich dachte, bei Sporting“, antwortete er schließlich. „Ich habe für Sporting Clube de Lourenço Marques gespielt. Die arbeiten mit Sporting Lissabon zusammen. Aber …“

„Was aber?“, fragte ich.

„Kurz vor dem Abflug sagte mir meine Mutter, dass Benfica auch interessiert sei. Das Geld für den Anzug und den Koffer sei nämlich von Benfica. Ich solle einfach mal abwarten, wer mich abholt.“

„Das heißt, Sie wissen gar nicht, wer Sie abholt und wo Sie spielen werden?“

„Nein“, kam es zögernd zurück. 

Hatte er Angst vor der Zukunft, wie ich auch? Ich nahm es an. Was wusste denn ich von Herrn da Maia? Dass er der Bruder des Mannes war, bei dem meine Mutter seit Jahren als Köchin arbeitete. Dass er der Inhaber einer Privatbank war. Seit ein paar Jahren verwitwet, zwei Kinder.

Eusébio berührte mich am Arm. 

„Warum weinst du?“

Ich öffnete die Augen. 

„Entschuldigung“, sagte ich, zum dritten Mal innerhalb weniger Minuten, und wischte mir die Tränen ab. Hatte er gerade du gesagt?

„Ich habe ein bisschen Angst. Angst vor der Aufgabe. Ich soll im Haushalt einer reichen Familie arbeiten. In Lissabon. Ich war noch nie weg von Lourenço Marques. Von meiner Mutter, den Geschwistern, meinen Freunden, den Nachbarn. Alles wird neu sein.“

„Warum gehst du nach Lissabon?“

„Meine Mutter hat gesagt, dass es eine große Chance für mich sei. Ich könne arbeiten, Geld verdienen. Und sie müsse ein Kind weniger versorgen.“

„Hast du keinen Vater?“

„Er ist vor ein paar Jahren gestorben.“

Als Eusébio nicht mehr antwortete, sah ich zu ihm hinüber. Jetzt war er es, der Tränen in den Augen hatte.

„Was ist?“, fragte ich.

„Meiner auch“, sagte Eusébio. „Mein Vater ist auch gestorben. Als ich noch ein kleines Kind war. Ich habe viele Geschwister, ältere und jüngere. Für unsere Familie ist es eine Riesenchance, dass ich nach Lissabon komme und mit Fußball mein Geld verdiene.“

Beim Wort Fußball hatte sein Gesicht kurz aufgeleuchtet. Jetzt war es wieder ernst und traurig.

„Ich vermisse ihn“, sagte er.

Ich wusste, wen er meinte. Ich vermisste ebenfalls meinen Vater.

„Da haben wir ja etwas gemeinsam“, sagte ich, ohne besonders darüber nachzudenken, was ich da gerade sagte.

Eusébio berührte meinen Arm. Nur ganz leicht.

„Ja“, sagte er. „Vielleicht sogar mehr als das.“

Ich hätte ihn küssen können für diesen Satz. Doch statt Eusébio zu küssen, wurde ich rot und starrte auf meine Hände, die ich in den Schoß gelegt hatte.

Zum Glück sprach er einfach weiter, als ob er nicht gesehen hätte, wie verlegen er mich gemacht hatte.

„Es ist schön, dass wir uns getroffen haben. Als ich mich von meiner Mutter, meinen Geschwistern, meinen Freunden verabschiedet hatte, war mir plötzlich klar, dass ich von da an ganz allein war. Und das kurz vor Weihnachten. Wir sind katholisch, und Weihnachten war für uns immer das wichtigste Fest des Jahres.“

„Merkwürdig, so etwas Ähnliches habe ich vorhin auch gedacht, als ich in den Wartesaal ging.“

„Gar nicht merkwürdig“, sagte Eusébio. „Wir sind uns eben ähnlich.“

Ich nahm seine Hand und drückte sie leicht. „Das hast du schön gesagt.“ Jetzt ging mir das du, das ich bislang vermieden hatte, ebenfalls ganz leicht über die Lippen.

Warum hatte der Flug von Lourenço Marques nach Lissabon nicht ewig dauern können? Viel zu früh kündigte der Flugkapitän im Lautsprecher die Landung an.

Eusébio und ich hatten uns, nachdem einmal das Eis gebrochen war, so intensiv unterhalten, wie ich es niemals zuvor mit einem Jungen getan hatte. So kam es mir jedenfalls vor. Es war, als ob wir uns schon lange kannten, gut kannten, sehr gut.

Wir gingen nebeneinander zur Gepäckausgabe, warteten nebeneinanderstehend auf unsere Koffer. Eng nebeneinander gingen wir zum Ausgang, als ob wir das Unbekannte, das vor uns lag, so besser bewältigen könnten. In der Ankunftshalle wartete der Fahrer von Herrn da Maia, hatte ich zu wissen bekommen. Er werde ein Schild mit meinem Namen in der Hand halten, stand in dem Brief, den meine Mutter bekommen hatte.

Ich sah das Schild. Ich sah den Mann, der es hielt und der eine Art Uniform trug.

„Jetzt werde ich abgeholt“, sagte ich und blieb stehen.

Eusébio hatte seinen Koffer abgesetzt und schaute sich suchend um.

Zwei Männer lösten sich aus der Menge der Wartenden und gingen auf ihn zu. „Ich offensichtlich auch“, sagte Eusébio. „Ich weiß immer noch nicht, von wem.“

„Sehen wir uns wieder?“, fragte ich.

Er sah mir in die Augen.

„Ich hoffe es“, sagte er. 

„Möchtest du denn?“

„Ja“, sagte Eusébio, ohne zu zögern. „Ja, sehr gern.“

Und schon im Weggehen, einer der Männer hatte seinen Koffer genommen, der andere ihn leicht am Arm gefasst, wohl um ihm die Richtung anzuzeigen: „Besuch mich doch.“

„Aber wo soll ich dich suchen?“

„Im Stadion.“

„Sou tua“, sagte ich, während er davon ging. Oder dachte ich es nur? Sagte ich es zu mir selbst? „Ich bin dein.“

Im Weggehen blickte er noch einmal nach mir zurück. Kurz darauf war er verschwunden. (...)

Michael Longerich: Maria und Eusébio
316 Seiten, Hardcover, 22,00 €, Januar 2022, ISBN 978-3-947759-91-0

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heute und nicht gestern

Es wäre alles anders gekommen, wenn sie nicht kurz entschlossen das Antiquariat an der Ecke der Straße aufgesucht hätte, um nach einem Geschenk für Gregor zu suchen. Der Besitzer des kleinen Ladens kannte sie kaum, ihren Mann dafür umso besser, da Gregor gern nach der Arbeit bei ihm vorbeischaute, immer auf der Suche nach einer besonderen, möglichst frühen Ausgabe seiner Lieblingsschriftsteller. Die beiden tranken einen Kaffee zusammen, unterhielten sich über das Weltgeschehen und natürlich über Neueingänge, und Gregor kam immer mal wieder mit einem »echten Fund« nach Hause, obwohl die Bücher schon in Zweierreihen im Regal standen. Platz für Bilder, die sie gern aufgehängt hätte, musste sie sich erkämpfen, da sich die Bücherwände inzwischen durch alle Räume zogen. Ganz zu schweigen von den Kisten, die im Keller verstaubten. »Sei froh, dass er die Fenster nicht zustellen kann«, hatte Gregors Freund Matthias sie eines Tages zu trösten versucht. »Und wenn du mal unter Klaustrophobie leidest, zieh einfach zu mir.«

»Mein Mann wird sechzig«, sagte Vera, nachdem sie sich bei Herrn Braun vorsichtshalber noch einmal vorgestellt hatte. Schließlich war es Monate her, dass sie ihn auf dem Bonner Markt kennengelernt hatte, wo er hinter Gregor und ihr am Gemüsestand wartete. Sein etwas unsicherer Gesichtsausdruck verriet ihr, dass er sich nicht an sie erinnerte. »Haben Sie vielleicht etwas ganz Besonderes für ihn? Etwas, über das er sich freuen würde?«

Herr Braun strich sich nachdenklich über das Kinn. Dann schaute er sie über den Brillenrand fragend an, als ob er überlegte, in wie weit sie mit ihrem Mann die Begeisterung für alte Bücher teilte. Sie war schon im Begriff zu sagen: »Mir ist ein schöner Einband wichtig«, wusste aber, dass sie mit diesem Satz sofort in die Kategorie der Nichtkenner eingeordnet werden würde. Also sagte sie, um auf der sicheren Seite zu sein: »Sie kennen doch die Vorlieben meines Mannes.«

»Nun ja, Frau Baumeister«, der Antiquar schob seine Hände in die Taschen seiner verbeulten Cordhose und nahm sie langsam wieder heraus. Traute er sich nicht, einen Vorschlag zu machen? »Ich hätte da eine frühe Gesamtausgabe von Balzac, dreißig Bände, ledergebunden.« Er machte eine Pause, wollte sich wohl vergewissern, ob es sich lohnte weiterzureden. »Ihr Mann hat schon oft einen sehnsuchtsvollen Blick auf diesen Schatz geworfen.«

Dreißig Bände! Sie wollte Gregor gern eine Freude machen, aber dreißig Bände bedeuteten ein neues Regal und noch weniger Platz in der Wohnung. Die Bücherreihen würden sie eines Tages erdrücken. Die Romane von der Bestsellerliste, die sie selbst mit Vorliebe las, lehnte Gregor rundweg ab. »Das Papier nicht wert«, war er überzeugt. Es wäre ihr nie in den Sinn gekommen, diese Romane neben seinen Molière oder Cervantes zu stellen, aber sie nach dem Lesen einfach zu »entsorgen«, wie Gregor es ihr empfahl, das konnte sie nicht. Schließlich hatten diese Bücher sie ein paar Nächte lang gut unterhalten, hatten ihr manchmal sogar neue Welten erschlossen.

»Ich würde mich gern einmal selbst umsehen«, sagte sie, um nicht auf die dreißig Bände eingehen zu müssen.

»Bitte sehr. Die ganze hintere Wand dürfte Sie interessieren.« Braun warf ihr einen fragenden Blick zu, als müsse er etwas überlegen, dann verschwand er hinter seinem bücherbeladenen Schreibtisch, nahm seine Brille ab und putzte sie bedächtig mit einem Taschentuch. Seine Besucherin schien er vergessen zu haben. 

Es kam Vera so staubig in dem Raum vor, dass sie schon bedauerte, den Laden überhaupt betreten zu haben. Obwohl draußen die Sonne schien, brannten zwei Deckenlampen, da auch die Fenster bis zur halben Höhe mit Kisten zugestellt waren. Wie konnte man es den ganzen Tag hier aushalten? Sie würde sich beeilen, um diesem Geruch von Vergänglichkeit, den sie bei all den Werken der größtenteils verstorbenen Dichter und Denker zu spüren vermeinte, zu entkommen. 

Einige besonders kunstvoll gestaltete Einbände zogen ihre Aufmerksamkeit auf sich. Shakespeare in glänzend grünem Leder, französische Romantiker in graublau gemustertem Leinen, Nikolaus Lenau mit wunderschönen Jugendstilornamenten. Für Gregor waren Inhalt, Einband und Nummer der Ausgabe drei Kriterien, die sich in seiner Sammelleidenschaft nicht voneinander trennen ließen, während für Vera, wenn sie ehrlich war, das äußere Erscheinungsbild seiner Bücher an erster Stelle kam. Schließlich sah sie sich seine Kostbarkeiten meistens nur von außen an, und da sollten sich wenigstens ihre Augen an dem ganzen hochgeistigen Gedankengut erfreuen können. 

Sie hielt gerade einen Gedichtband von Annette von Droste-Hülshoff in der Hand, Goldschnitt, Einband mit Goldprägung, als ihr Blick auf einige in ihrer Schlichtheit beeindruckende Buchrücken fiel. Theodor Fontane, Gesamtausgabe der erzählenden Schriften in neun Bänden las sie. Das war es! Fontane war einer von Gregors Lieblingsschriftstellern. Neun Bände, das bedeutete ein halbes Regalfach. Das musste sie ihm zum sechzigsten Geburtstag wohl zugestehen.

Sie öffnete aufs Geratewohl den ersten Band.  Frakturschrift, wie nicht anders zu erwarten. Wenn Besuch von der Universität da war, brachte sie manchmal nebenbei einen Fachausdruck im Gespräch unter, als könnte sie mitreden, wenn sie wollte. Die Fachwörter hatten sich ihr durch Gregors ständiges Wiederholen eingeprägt, nicht durch gemeinsames Interesse. Sie hatte längst gelernt, nur mit halbem Ohr zuzuhören, wenn Gregor sich begeistert über einen neuen Band ausließ. Dann nickte sie hin und wieder an passender Stelle und erinnerte ihn daran, dass der Platz in der Wohnung knapp wurde.

Sie blätterte zurück auf die erste Seite, um zu sehen, ob dort vielleicht der Name des ehemaligen Besitzers stand – meistens in Schönschrift oben in der rechten Ecke. Oder ob es vielleicht eine Widmung gab: für die liebe Elli von Hans oder meinem Wilhelm zum Geburtstag, Deine Mutter. Gregor hatte ihr einmal eine Widmung gezeigt, die ihr bestens gefiel, ihn aber fast davon abgehalten hätte, das Buch zu kaufen:  Lieber Wilfried, zur Erinnerung an unsere Wiese. Deine Luise.  »Unsäglich«, hatte Gregor gesagt, während Vera sich vor Lachen fast verschluckte. 

Sie stutzte. Auf dem Deckblatt standen gleich zwei Eintragungen, und das in unterschiedlichen Schriftzügen. Am oberen Rand der Seite las sie mit Tinte geschrieben in gestochener Fraktur Paul Anholt, Münster 1929. Außer der selbstbewussten Schrift nichts Besonderes. Auf der unteren Hälfte allerdings etwas Ungewöhnliches, ein Gedicht, mit Filzstift geschrieben ? sie sah Gregor schon zusammenzucken ?, noch dazu mit unregelmäßigen Wortabständen und in unterschiedlicher Größe, so als käme es nicht auf die äußere Form an. Voller Neugier begann sie zu lesen.

Die Frage bleibt
Halte dich still, halte dich stumm,
Nur nicht forschen, warum? Warum?
Nur nicht bittre Fragen tauschen,
Antwort ist doch nur wie Meeresrauschen. 
Wie’s dich auch aufzuhorchen treibt,
Das Dunkel, das Rätsel, die Frage bleibt.  (Theodor Fontane)

Deine Sanne

Bonn, den 26. Januar 1988

Wie kam jemand dazu, so ein dunkles Gedicht auf die erste Seite eines Buches zu schreiben?

Ein leichtes Unbehagen ließ Vera den Deckel zuklappen, aber wie durch einen Zwang blieb sie vor den neun Bänden stehen. Gregor würde sich über den Filzstift und die »Verschandelung« des Deckblatts aufregen, sich aber gleichzeitig über die schöne Ausgabe freuen. Wie sollte sie sich entscheiden? Die Bände liegen lassen? Ein besseres Geschenk würde sie nicht finden, da war sie sich sicher. 

Das Dunkel, das Rätsel, die Frage bleibt. Was meinte diese Sanne damit? Und an wen war die Frage gerichtet? An einen Mann, das war leicht zu erraten. Obwohl, es konnte auch eine Frau sein, der die Zeilen galten. Der Beschenkte hatte den Text jedenfalls verstanden, weil ihn etwas mit Sanne verband. Sanne, ein ausgefallener Name. Oder war es einfach die Abkürzung von Susanne, was sich gleich viel weniger extravagant anhörte. Vielleicht kannte Herr Braun diese Frau und konnte etwas über sie erzählen. Immerhin hatte sie die Zeilen in Bonn geschrieben.

Sie rief sich zur Ordnung. Es ging nicht um Sanne oder Susanne, sondern darum, ob sie die Fontanebände trotz des gekritzelten Gedichts kaufen sollte. 

»Hätten Sie einen Moment Zeit, Herr Braun?«

Der Antiquar machte keinen begeisterten Eindruck, dass ihn jemand störte, war aber Geschäftsmann genug, um das Buch, das er in der Hand hielt, zur Seite zu legen. »Haben Sie sich für den Fontane entschieden?«

»Ja, aber…«

»Eine gute Wahl. Ihr Mann wird sich freuen.«

»Ja, aber es gibt da ein kleines Problem. Das Gedicht auf dem Deckblatt.« Sie zeigte auf den Text. »Filzstift. Und dann die krakelige Schrift.«

»Ich weiß, ein Frevel, aber die Bände sind trotzdem ihr Geld wert. Ich könnte Ihnen einen kleinen Nachlass geben.« (...)

Maria Uleer: heute und nicht gestern
344 Seiten, Hardcover, 18,00 €, Juni 2021, ISBN 978-3-947759-75-0

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Das teutsche Wörterbüchlein

CDU, die (Sg.):
Akronym für Christlich Demokratische Union Deutschlands. (Noch) zweitgrößte politische Partei in Deutschland. Selbstbeschreibung: »Volkspartei der Mitte«. Hobby: den Kanzler/die Kanzlerin stellen. Versteht sich als politische Heimat konservativ denkender Mittelständler, die zu unbegabt oder zu skrupulös sind, Orthopäde oder Architekt zu werden, und daher in der FDP nichts zu suchen haben, denen es andererseits aber viel bedeutet, ihr Land vor den verheerenden Ideen und Plänen der Sozialdemokraten zu bewahren. Unauflöslich verzankt mit der Schwesterpartei CSU in so gut wie allen politischen Fragen, Einigkeit besteht jedoch bezüglich eines grundsätzlichen Argwohns gegenüber Homo-, Trans- und Metrosexuellen, Vegetariern sowie Sozialdemokraten.

Bildete mit Letzteren gleichwohl mehrfach Regierungskoalitionen, während derer Kanzlerin Merkel vorführte, wie man Sozen einseift. Koaliert notgedrungen auch mit den Grünen, weil die immerhin auch Leute wie Kretschmann haben. Koaliert eigentlich am liebsten mit der FDP. Die aber findet die CDU mittlerweile zu sozialistisch.

China:
auch »Reich der Mitte« genannt; extrem bevölkerungsreicher Staat in Ostasien. Spezialisiert darauf, braven westlichen Erfindern ihre Erfindungen zu klauen, diese billig nachzuproduzieren und so europäische und transatlantische Märkte kaputtzumachen.

Selber haben die Chinesen kaum etwas Bedeutendes erfunden – außer das Papier, den Buchdruck, 100.000 Schriftzeichen, den Kompass, einige Kampfsportarten, die Kulturrevolution, das Schwarzpulver sowie vor Kurzem das Sozialpunktesystem. Dieses nun würden einige brave EU-Staatschefs (z.B. Orbàn in Ungarn) schrecklich gern abkupfern. Und wer weiß, vielleicht haben sie damit schon begonnen.

Chemie, die (Sg.):
sehr, sehr böse Naturwissenschaft, die sich mit dem Aufbau, den Eigenschaften und der Umwandlung von Stoffen beschäftigt, z.B. mit der Umwandlung von Chlor in Hähnchen. Bei Chemielehrern, Dealern, Pharmafirmen und anderen zweifelhaften Berufsgruppen ist sie beliebt, für Heilpraktiker, Veganer und Anthroposophen ist sie das Werk des Satans.

CO2, das (Sg.):
Kohlenstoffdioxid (kurz: CO2) nennt man auch Treibhausgas, weil es ein fruchtbares Klima erzeugt. Es ist ein natürliches Nebenprodukt der Zellatmung vieler Lebewesen; auch der Zerfall toter Organismen oder natürliche CO2-Quellen (Vulkangase) setzen Kohlenstoffdioxid frei. Es kommt folglich in großen Mengen in der Erdatmosphäre vor. Zusätzliche Mengen CO2 entstehen bei der Verbrennung von Holz, Kohle, Öl oder Gas. Da die Menschheit pausenlos Holz, Kohle, Öl oder Gas abfackelt, ist das ziemlich viel. Einmal in die Atmosphäre abgesondert, baut sich CO2 leider nicht selbst ab. Das führt dazu, dass das Klima irgendwann (könnte ziemlich bald sein) nicht mehr fruchtbar ist, sondern furchtbar, weswegen es ratsam scheint, dass wir uns schleunigst nach einem anderen Planeten umsehen, den wir besudeln, pardon, besiedeln können. (...)

Gitta List: Das teutsche Wörterbüchlein
84 Seiten, Hardcover, 12,00 €, August 2021, ISBN 978-3-947759-82-8 

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Die Anführerin
Roman von Stephan Schicke
Kapitel I: Beethoven 
Bonn, September 1940

»Kinder, Ruhe jetzt!«
Fräulein Marx versuchte, ihre würdevolle Miene aufrechtzuerhalten. Wie immer scheiterte der Versuch daran, dass ihre Mundwinkel beim Beobachten der Possen ihrer Schüler zuckten. Wie sehr liebte sie es doch, dass die Kinder trotz der harten Zeiten ihr Lachen nicht verloren. Aber Pflicht war nun einmal Pflicht! Um ihr Grinsen zu verdecken, schob sie ihre viel zu groß wirkende Brille auf der schmalen Nase in ihrem noch jungen Gesicht zurecht. Ebenso beiläufig wie unnötig überprüfte sie den korrekten Sitz ihres Dutts. Um die Aufmerksamkeit der Schüler ihrer Quinta wiederzuerlangen, ließ sie mit aller ihr zur Verfügung stehenden Kraft, die zum Glück nicht allzu groß war, ihren Geigenbogen auf den vorderen Tisch sausen. Der Knall sorgte für das gewünschte Resultat. Zumindest für eben jenen Moment, den sie benötigte, um in den Geist der Kinder vorzudringen.

»Ihr seid Bonner«, sprach sie sanft aber fest, zupfte dabei erneut an ihrer Brille herum, »und als solche ist es eine Pflicht, die Werke Beethovens zu kennen. Wir besprechen heute seine 5. Symphonie. Prägt sie euch gut ein, sie ist gerade in diesen Tagen besonders wichtig!«

Marie saß in der vorletzten Reihe des kleinen Klassenzimmers und drückte sich auf dem bereits in die Jahre gekommenen Holzstuhl herum. Sie legte den Kopf auf ihre Arme und lauschte gebannt, beinahe andächtig, den Klängen, die aus der Violine ihrer jungen Lehrerin zu den Schülern drangen. Es umgab sie wie ein Zauber, wenn die Töne mal hart und abgehackt, mal weich und umschmeichelnd die Luft vibrieren ließen.

Wie eine absurde Kakophonie durchbrach plötzlich die Schulklingel das Gespinst der Geigenklänge in Maries Kopf und schrillte das Ende des Tages herbei. Fräulein Marx wurde jäh unterbrochen, und  ihr mildes Lächeln, mit dem sie ihre Schüler entließ, vermochte nicht den Wunsch zu verdrängen, den Marie verspürte, ihr weiter lauschen zu dürfen.

Fräulein Marx beendete den Unterricht, und die johlende Schülermeute stürmte in ihren Nachmittag. Auch Marie erhob sich. Widerwillig; stob aber nicht ihren Mitschülern nach, sondern ging auf das Pult zu, hinter dem Fräulein Marx ihre Violine und die restlichen Unterrichtsmaterialien einsortierte.

Marie druckste etwas herum, als ihre Lehrerin sie lächelnd ansah.

»Das war wunderschön! Dürfen wir bald noch etwas von Ihnen hören?«

Fräulein Marx lachte ein wenig verlegen. »Aber gerne, Mariechen! Es freut mich, wenn dir Beethoven gefallen hat.«

Marie lächelte dankend und winkte ihrer Lehrerin zum Abschied zu.

Auf dem Weg hinaus aus der Schule dachte sie über Beethoven nach.

Die Treppe hinunter.

Er kam ja aus Bonn. Genau wie sie. Sie dachte an den immer grimmig dreinblickenden Mann mit der komischen Kleidung, der sie jedes Mal auf dem Münsterplatz ansah, wenn sie an dem Denkmal vorbeiging. Früher musste sie mehr Treppen hinunter gehen, wenn die Schule aus war. Aber jetzt … Jetzt fand der Unterricht nur noch im Erdgeschoss und im Hochparterre statt. Jetzt, ja jetzt war alles anders.

Wie konnte dieser grimmige alte Mann es schaffen, sie mit solch weichen Tönen zu umgarnen, sie so zu faszinieren?

Hinaus, die Straße entlang, über den Adolf-Hitler-Platz in die Sternstraße. Warum nur war alles anders? Sie spürte es überall. Aber niemand redete mit ihr darüber. Krieg. Ja. Aber warum nur?

Marie liebte ihre Stadt. Liebte ihre Sternstraße. Gut, sie hatte in ihren zwölf Jahren noch nichts anderes gesehen, aber sie war sich sicher, dass alles andere nur schlechter sein konnte als Bonn und als ihre Sternstraße.

Dicht waren die Häuser hier aneinander gebaut. Mittelalterliche Fundamente, die in jeder Epoche mit den ihr eigenen Stilmitteln neu aufbereitet worden waren, verströmten zusammen mit dem Kopfsteinpflaster einen urigen, zeitlosen und harmonischen Hauch in der alten Innenstadt Bonns. Welche unbeschreiblichen Ereignisse, welche unerhörten Geheimnisse hatten diese Gebäude und Straßen im Laufe der Jahrhunderte – ja, Jahrtausende – schon erlebt?

Marie lief die Sternstraße entlang, ihr kleiner Lederranzen hüpfte im Takt mit ihren schulterlangen roten Locken auf und ab. Sie grüßte im Vorbeisausen ihre Nachbarn, die Kisten auf die Straße stellten. Sie mussten die Keller ausräumen. Platz schaffen. Wozu?

Endlich war sie am Haus Nummer 49 angekommen. Sie eilte die Treppe des schmalen Gebäudes hinauf und stürmte in die kleine Wohnung im Dachgeschoss.

»Langsam, langsam!« Ihre Mutter, eine kleine dunkelhaarige Frau, die den Eindruck machte, dass sie fortwährend grinste, sah Marie erschrocken an. »Was hast du es denn so eilig?«

»Ich muss gleich zu Opa«, keuchte Marie außer Puste.

Ihre Mutter machte eine missbilligende Grimasse. »Vorher wird gegessen. Und dann machst du erst Hausaufgaben! Und denk auch an den Appell, es ist Mittwoch.«

Grummelnd ließ sich Marie an den Küchentisch unter dem Dachfenster plumpsen, an dem provisorisch die ohnehin windschiefe Verdunkelung beiseitegeschoben worden war. Abends musste sie wieder ganz akkurat angebracht werden, damit kein Licht nach außen drang. So hatte es die Ortsgruppenleitung der Partei angeordnet. Zu groß war die Gefahr, dass feindliche Bomber die Beleuchtung der Stadt sahen. Aber was dann? Wieder durchfuhr Marie diese dunkle Ahnung, die sie nicht greifen konnte. Egal.

»Was gibt‘s denn?« Die Aussicht auf eine warme Mahlzeit ihrer Mutter ließ Marie den Unmut vergessen.

Ihre Mutter wuchtete einen großen Topf auf den Tisch. »Wirsing.«

»Schon wieder?« Enttäuschung machte sich breit.

»Wirsing ist billig und vor allem gesund. Also beschwer dich nicht, du Prinzesschen!«

Marie unterdrückte ein Kichern und lugte in den großen Topf. Das dürfte für ein paar Tage vorhalten. Sie waren ja nur zu zweit. Na ja, eigentlich zu dritt, wenn man den Mitbewohner im Bauch ihrer Mutter dazu zählte. Aber der würde erst in ein paar Monaten wirklich da sein. Solange waren die Bewegungen ihrer Mutter eingeschränkt und etwas behäbig, wie Marie gerade beobachten konnte, als die Schwangere die Kartoffeln vom Ofen brachte.

Gierig nahm das Mädchen eine Gabel des Kohls.

»Kein Speck?«

Wieder das missbilligende Gesicht. »Miechen … Du weißt doch, dass wir mit den Lebensmittelmarken haushalten müssen. Lass uns die Fleischmarken lieber für etwas Schöneres aufheben als für den Wirsing.« (...)

Stephan Schicke: Die Anführerin  -  Ein Roman nach dem Kriegsbericht einer Bonner Zeitzeugin
328 S., Hardcover, 19,80 €, Dezember 2021, ISBN 978-3-947759-89-7 

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