+++ Leseproben +++
Reise auf dem Rhein, durch
die teutschen Rheinländer
von Friedrich Albert Klebe
Rheinfahrt von Neuwied bis Cölln.
[…] Hier bei Unkel eröffnet sich nun eine der schönsten Aussichten
längs des ganzen Rheins. Der Fluß bildet wieder ein breites
großes Becken, zur Rechten mit drei Dörfern Heister, Scheuren
und Rheinbreitbach besetzt, zum Theil zwischen Fruchtfeldern und Obstbäumen
am Fuße sehr hoher Berge gelegen, und zur Linken schließen
es Weinberge ein, an deren Fuße die Landstraße hinläuft.
Oberwinter ruht freundlich in der prächtigen Landschaft, und in
der Ferne thronen die Siebenberge in den Wolken. Unendlich reizend ist
diese Gegend von Oberwinter, ein freundlicher Flecken, der zum Jülichschen
gehörte. Die Landschaft in seiner Nähe vereinigt die Schönheiten
der Lage von Bingen, von St. Goar und Ehrenbreitstein, in einer Mannichfaltigkeit
ohne Gleichen. Es ist hier so ernst und so heiter, so erhaben und so lieblich,
man sieht alles zusammen, was das Auge an einer Landschaft entzückt.
Von dem heitern Grün der Saatfelder und Aue wende ich meinen Blick
auf die grauen Ruinen zerfallener Schlößer, und in die dunkeln
Klüfte, wo aus Spalten zerbrochener Säulen Epheu entsprießt,
und wilder Thymian duftet.
Der Rhein erhält hier eine seltene Breite; in drei Arme getheilt,
umfaßt er zwei Inseln, das Nonnenwerth und das Grafenwerth genannt.
Auf ersteres blicken die Trümmer von Rolandseck, einem ehemaligen
Bergschloß herab, das einst der Ritter Roland, ein Neffe Carls des
Großen erbaut haben soll, um seiner Geliebten nahe zu seyn, die hier
im Kloster auf ewig von ihm geschieden war. Dies Benediktiner-Nonnenkloster
wurde vom Erzbischof Friedrich I. 1120 gestiftet. Nach dem Brande von 1773
ist es sehr weitläuftig wieder aufgebaut worden. Man hat es sonst
auch Rolandswerth genannt, zum Andenken des traurenden Ritters Roland.
Das Grafenwerth ist mit Saatfeldern und Obstbäumen bedeckt. Das Ganze
hier herum ist von einer unbeschreiblichen Schönheit.
Etwas weiter hinab wird der Lauf des Rheins schneller, und eilender
die Fahrt des Schiffs. Hier lassen die Schiffer die Ruder ruhen, und mit
Gotteshülfe – so heißt dieser Distrikt – treibt das Fahrzeug
ohne die ihrige mit dem schnellern Strome hinab. Honnef und Röndorf
liegen fast schon im Schatten des Siebengebürges. Sie sind wohlgebaut,
umgeben von Saaten, Weinpflanzungen und Obstgärten. Das Siebengebürge,
das einen Theil des köllnischen Amts Löwenberg ausmacht, und
sich von den Schlössern Heimberg und St. Egidienberg bis Bonn gegenüber
erstreckt, hat nur uneigentlich den Namen der Siebenberge oder des Siebengebürges.
Die Zahl der Berge ist viel größer, aber sieben darunter zeichnen
sich durch ihre Höhe vorzüglich aus. Der Anblick dieser hohen
Bergmaßen, mit den zerstörten Vesten darauf, gewährt einen
Anblick, der in hohem Grade erhaben ist, und etwas unbeschreiblich Majestätisches
hat.
Der Löwenberg ist der höchste von den Bergen des Siebengebürges.
Er trägt noch eine alte Veste, die in Trümmern zerfällt.
Seine Höhe beträgt 1.896 rheinische Fuß. Der Drachenfels,
ein anderer Bergkegel, steigt steil vom Ufer des Flusses an in die Wolken,
zersplitterte Ueberreste der ehemaligen Burg darauf sehen wie ungeheure
Statuen aus, seltsam von Form und Zusammensetzung. Der Kurfürst
Arnold I. schenkte im Jahre 1138 dieses Schloß dem Probste Gerhard
von Bonn, von dem es hernach an die Burggrafen von Drachenfels kam. Nach
den Aussterben dieser Familie im Jahre 1580 kam es durch eine Heirath mit
der letzten Tochter, Appollonia von Drachenfels, an den Grafen Otto Waldbott
von Bassenheim, von denen sich noch die Nachkommen, Freiherren Waldbott
von Bassenheim zu Gudenau, Erb- und Burggrafen, schreiben.
Der Drachenfels verbindet sich gegen Osten mit der Wolkenburg, einem
Bergkegel, dessen Höhe man auf 1.482 rheinische Fuß angiebt.
Er war sonst noch höher, als er jetzt ist, und auf seinem Gipfel stand
ein Schloß, aber man hat ihn so weit abgetragen, indem man einen
beträchtlichen Steinbruch darauf anlegte, welcher die sogenannten
Königswinterer Steine liefert, die am ganzen Rhein hinab zu Treppen,
Thüren und Fenstereinfassungen, Säulen etc. gebraucht, und zu
Königswinter bearbeitet werden. – Der Erzbischof von Kölln,
Friedrich der Erste, der die durch Kaiser Heinrichs des Fünften Armee
verwüsteten Klöster Wolkenburg, Drachenfels und Rolandseck auf
dem linken Ufer wieder herstellte, starb auf dieser Wolkenburg. Sein Leichnam
ruhet in der Abtei Siegburg.
Zur Rechten des Drachenfelsen stehet der Stromberg, oder Petersberg
mit einer kleinen, dem heiligen Peter geweihten Capelle. Einigemal baueten
sich Mönche, und zuletzt Cisterzienser aus dem in der Eifel gelegenen
Kloster Himmerothe 1188 unter dem Erzbischof Philipp von Heinsberg daselbst
an, aber sie verließen diese mühsam zu ersteigende Höhe
nach einigen Jahren wieder, und bezogen die hinter dem Berge in einem Thale
gelegen Abtei Heisterbach, welche noch existirt. – Von geringerer
Höhe und entfernter vom Rhein liegen noch als Theile des Siebengebürgs
der Minderoder Nonnen-Stromberg, der hohe Oelberg – 1.827 Fuß hoch
– und mehrere andere, die dazu gehören. – Ich habe diese Berge einst
in einer mondhellen Sommernacht von Bonn aus gesehen. Ich stand am Ufer
des Rheines, der ohne Geräusch daher strömte. Alles war so still
und freundlich! Es war so hell überall, und der Mond bewegte sich
nicht an dem dunkeln blauen Himmel, und blickte durch die Blätter
des Baumes, unter dem ich mich niedergesetzt hatte.
Aber drüben unterm Siebengebürge war dunkle Nacht. Ihr langer
Schatten deckte weit umher das Land. Das Siebengebürge war von jeher
besucht, und bewundert von Naturforschern und Reisenden aus allen Ländern
Europens. De Luc und Collini, Hamilton und Forster sind hier hinüber
und herüber geschifft, in den einfachen Hütten des Weinbauers
und Fischers eingekehrt, und haben Güte und Offenherzigkeit und freundliche
Aufnahme gefunden. Der Krieg hat sie seit zehn Jahren verscheucht, und
jetzt ist es ihnen erschwert, so wie de Luc es that, bald hier bald dorthin
zu fahren, und einzukehren, wo es ihnen einfiel. Damals brauchte man keine
Pässe, keine Passavants, und wurde nicht visitirt. Der Genuß
des Reisens in diesem schönen Lande wird unendlich durch alle diese
Einrichtungen vermindert, die man sonst nicht kannte.
Bei Königswinter, einem Städtchen an der Grenze des Herzogthums
Berg, ziehen sich die Berge zurück, und die Ufer erheben sich nur
nach und nach in sanften Wölbungen zu den entfernten Gipfeln des Gebürges,
der Rhein breitet sich aus, und fließt durch ein ungeheures Amphitheater.
– Die Dörfer Dollendorf und Obercaßel zur Rechten, und dahinter
die teutsche Ordenscomenthurey Rammersdorf; zur Linken Mehlem, Rünsdorf,
Plittersdorf und die prächtige Ruine Godesberg scheinen die Schluß-
und Grenzsteine des schönen Landes zu machen, das man durchfuhr.
Der sich steil von der Ebene erhebende Godesberg ist einer der schönsten
am Rhein und mit seinen Ruinen, die er tragt, eine Zierde der heitern Landschaft.
– Nach der Sage soll hier zu den Zeiten der Römer ein Tempel des Mercur
gestanden haben, den die bekehrten Ubier in eine dem Erzengel Michael geheiligte
Kirche verwandelt hätten. Daher sein Name Gottesberg oder Götzenberg.
– Die Gebäude des Schlosses sollen im 13. Jahrhundert von dem Erzbischof
Theodorich von Cölln aufgeführt seyn. Im 30jährigen Kriege
ward dies Schloß abwechselnd von den Schweden, Kaiserlichen und Franzosen
besetzt und verheert.
Die Gegend von Godesberg ist durch mehrere Anlagen und neue Gebäude
verschönert werden, welche der jetzt verstorbene Kurfürst Maximilian
[Franz] von Oesterreich in der Nähe des hier befindlichen Mineralbrunnens
– welcher ursprünglich Draitsch heißt – aufführen ließ.
Diese Quelle ist vom Prof. Wurzer zu Bonn chemisch untersucht worden, der
auch eine Abhandlung darüber geschrieben hat. Sie enthält fixe
Luft, Eisen, Kalk und Bittersalzerde, und etwas Mineralalkali. –
Die Erweiterung der Anlagen und die Verschönerung der Gegend um diesen
Brunnen gehörte mit zu den Lieblingsbeschäftigungen des Fürsten,
und wirklich würde der Zufluß der Fremden, wenn sie auch nicht
das Wasser angezogen hätte, doch bald beträchtlich genug geworden,
wenn da er alles für das Vergnügen derselben that, und die reizende
Gegend ihnen einen schönen Ruhepunkt nach der Reise auf dem Rhein
darbot. Hier würden alle gern verweilt haben, da bei Bonn, das nur
eine Stunde von hier entfernt ist, alle Reize der Rheinfahrt, mit der einförmigen
Landschaft aufhören, in die er tritt. Aber fast noch in der Entstehung
sind diese schöne Anlagen vernichtet worden. Die Tanz- und Spielsäle
stehen verlassen und verwüstet, die Wohnungen für Badegäste
wurden zu Casernen der Soldaten und die englischen Anlagen nicht mehr unterhalten.
Seit 1794, mit der Ankunft der Franzosen, hat alle Sorge dafür aufgehört,
und Maximilian hat seinen Lieblingsort nicht wieder gesehen.
Der Weg nach Bonn und von da nach Cölln führt vor diesen Brunnengebäuden
in einer kleinen Entfernung vorüber. Er ist gut unterhalten, und war
ehemals mit einer schönen Allee von Lindenbäumen – an der Zahl
3.537 – besetzt, die aber während dieses Krieges von den Franzosen,
und wie man sagt, noch mehr von den Bauern umgehauen wurden, welche den
Schatten, den sie ein paar Stunden des Tages auf ihre daneben liegenden
Aecker warfen, nicht leiden wollten, ob ihnen gleich der Kurfürst
den Acker, so weit er beschattet wurde, für baares Geld abgekauft
und dann wieder geschenkt hatte, damit sie nur die Bäume stehen lassen
sollten, die diesen Weg verschönerten, und den Reisenden und selbst
den Bauern sehr willkommen seyn mußten, die diesen Weg kamen. – Diese
Undankbarkeit und niedrige Habsucht, dieser gänzliche Mangel an Gefühl
für das Schöne, und nützliche Anstalten charakterisirt hinlänglich
das Volk, das diese Gegend bewohnt. Seine Sprache, seine Unwissenheit,
sein Aberglaube und Fanatismus macht es dem köllnischen Volke sehr
ähnlich, und jedem Reisenden widerlich. Eine interessante Antiquität
auf diesem Wege von Godesdorf, das bei dem Brunnenorte liegt, nach Bonn,
ist das große steinerne Monument im gothischen Geschmacke, welches
man hier das Hochkreuz nennt. Ohne bestimmen zu wollen, welchen Ursprung
es eigentlich habe, führe ich nur einige Sagen darüber an. Nach
einigen war hier der Marktplatz des alten Bonns, und andere geben an, daß
ein Herr von Hochkirchen, der einen Richter im Duell hier getödtet
habe, von dem Erzbischof Theodor von Heinsberg verurtheilt worden sey,
dies Kreuz aufzurichten, welches daher auch ehemals das Hochkircher Kreuz
geheißen habe. Die köllnische Chronik sagt, daß es um
das Jahr 1333 von Kurfürst Wallram von Jülich aufgerichtet worden
sei. – Es ist wirklich von schöner Arbeit, und als eine Merkwürdigkeit
dieser Gegend mehreremal in Kupfer gestochen worden. Auch haben die vorbeimarschierten
Soldaten es nicht, wie gewöhnlich, beschädigt.
Eine andere Merkwürdigkeit der Gegend von Godesberg ist das Kloster
Marienforst, das etwas westlich nach dem Gebürge zu liegt. Hierin
befinden sich Brigittenmönche und Nonnen unter einem Dache.
An einer großen Krümmung des Flusses, in einer weiten Ebene,
die gegen Westen von Gebürgen begränzt wird, liegt Bonn, jetzt
der Hauptort eines eigenen Bezirks im Rhein- und Moseldepartement, der
Sitz eines Unterpräfekts und ehemals die Residenzstadt des Kurfürsten
von Cölln. Bonn ist, so wie die meisten Städte am Rhein, sehr
alt, und hat mancherlei Schicksale erlitten. Sie war in grauen Zeiten von
den Ubiern bewohnt, einem teutschen Volke, woher sie auch den Namen Ara
Ubiorum erhielt. Dann legte Drusus Germanikus hier ein Castell an, wie
er an mehreren Orten am Rheine that, und bauete eine Brücke über
diesen Fluß. Die Stadt und alle übrige Anlagen wurden von den
Normannen wieder zerstört. Auf Veranlassung und durch eine Stiftung
der Mutter des Kaisers Constantin, der h[eiligen] Helena, wurde sie wieder
aufgebaut, und nachher Bona genannt; denn hier war nach Tacitus die 6te
römische Legion gelagert, wovon sie Castra bona genannt wurde. – In
jedem Jahrhunderte hat Bonn, als eine Vestung mehrere Unglücksfälle
erlitten. Sie wurde in den Jahren 1689 und 1703 durch heftige Belagerungen
und Bombardements sehr beschädigt. Als aber nach dem Badenschen Frieden
der Kurfürst Joseph Clemens wieder in den Besitz derselben kam, ward
die Stadt wieder hergestellt, und das große Schloß erbauet,
das aber, wie die schon früher erbauten, im Jahr 1777, zum Theil ein
Raub der Flammen wurde. Der Kurfürst Maximilian Friedrich stellte
es wieder her.
Bonn gehörte, als es noch die Residenz des Kurfürsten war,
zu den angenehmsten Städten am Rhein. – Der schöne Fluß,
die Gegend und die Anlagen umher, die Vergnügungen der Residenz, und
des Fürsten Popularität zogen Fremde aus allen Gegenden Europens
hieher. Sie weilten gern am Hofe und in der Nähe eines liebenswürdigen
Mannes, der einfach, wie sein Bruder Joseph, der Kaiser, war, und Pomp
und Gepränge nicht liebte, aber Wissenschaft und Cultur beförderte.
Jetzt ist Bonn ein todter stiller Ort, der nichts mehr hat, was den
Fremden noch anziehen konnte, als die Ruinen seines ehemaligen Glanzes.
Seine Bevölkerung hat sich durch die Auswanderung der meisten Hof-
und Regierungsbeamten und des Adels beträchtlich vermindert, und der
Nahrungsstand abgenommen. Jene betrug ehemals über 12.000 Einwohner,
mag aber jetzt wohl bis auf 9.000 vermindert seyn. Das große Schloß
des Kurfürsten mit seinen vielen Merkwürdigkeiten sieht aus wie
das Mainzer und Coblenzer. Es waren hierin eine kostbare Bibliothek, die
Meisterwerke der Literatur von allen Nationen enthaltend, ein physikalisches
Cabinet und eine Sammlung von Naturalien, die zu den ersten in Teutschland
gehörte. Die Säle und Zimmer, worin dies Alles aufgestellt war,
standen mit dessen Werth in Verhältnis. Dann sahe man noch in diesem
Schlosse den Teutschen-Ordenssaal, den Akademie-Saal und das Theater. Aber
alles dieses, alle Seltenheiten und Kunstwerke, die man hier verwahrte,
sind verschleudert, gestohlen und vernichtet. Noch vor kurzem wurde die
kurfürstliche Orangerie aus den Gärten bei dem Schlosse an den
Meistbietenden verkauft. Der schönste Theil desselben, oder vielmehr
der westliche Flügel, hieß ehemals Buen retiro.
An mehreren schönen und großen Häusern sieht man noch,
daß Bonn vor zehn Jahren der Aufenthaltsort des Hofes und seiner
Dependenzen war. Unter die bessern Gebäude gehören die der Grafen
von Belderbusch und von Metternich, der Freiherrn von Weichs, Gymnich –
Das Rathhaus ist ein ziemlich schönes Gebäude. Es steht seit
1757. – Der Marktplatz, auf dem es sich befindet, ist nicht regelmäßig,
hat aber ein heiteres Ansehen. Man sieht noch auf demselben eine Pyramide
mit einem Brunnen, welche die Bürgerschaft von Bonn 1777 dem vorletzten
Kurfürsten Maximilian Friedrich zu Ehren errichtete. Sie ist mit vielen
Schnörkeln unnützer Vergoldung, und geschmacklosen Inschriften
überladen. – Regelmäßiger, aber stiller ist der Vierecksplatz,
und zum Spazieren gehen dient der mit Linden besetzte Vorhof.
An Kirchen und Klöstern ist kein Mangel in dieser Stadt. Sie waren
voller Heiligthümer, Kostbarkeiten und Reliquien, aber das Kostbare
ist nicht mehr da, und die Wandelbarkeit ihres Zustandes würde nur
eine unvollkommene Beschreibung derselben zulassen. Es befinden sich hier
6 Klöster und 4 Pfarrkirchen. – Auch die Juden haben hier eine eigene
Gasse von 21 Häusern, die sie aber jetzt nicht mehr ausschließlich
zu bewohnen genöthigt sind. [...]
Friedrich Albert Klebe: Reise
auf dem Rhein, durch die teutschen Rheinländer, und durch die französischen
Departements des Donnersbergs, des Rheins und der Mosel und der Roer. Vom
Julius bis December 1800 Frankfurt 1801
444 S., Juli 2024, 28,80 €, ISBN 978-3-949979-67-5
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Kleine Furcht
Kapitel 1
Theo Kreitz verlässt hastig ein Zusammensein, das für ihn
veranstaltet worden war. Er ist ein vierschrötig gewordener, älterer
Mann mit dichtem grauem Haar. So wie er da steht, ist er Ergebnis vieler
Arbeitsjahre, des Sitzens und Schreibens, des Zuhörens und Aufschreibens,
des Zusammenfassens und Nachdenkens, tausender Besprechungen und Anweisungen,
guter und schlechter Tage, auch vieler guter Essen und Getränke, die
durch ihn hindurch flossen. Es ist ein Abschiedsessen für Kreitz.
Nach 44 Jahren Arbeit für ein und denselben Arbeitgeber hatte er gekündigt.
Er fühle sich im Augenblick nicht gut, sagt er zur Begründung
seiner Hast, während er sich seinen Mantel überzieht. Tatsächlich
ist er wie betäubt, so dass er die Erklärung, er fühle sich
nicht gut, mit Mühe über die Lippen bringt. Zuvor ließ
man ihn in einem Saal hochleben, überreichte dem Scheidenden Geschenke,
trank auf sein Wohl. Er sei mit dem Verband, für den er gearbeitet
habe, wie verwachsen, hieß es. Der Verband habe ihm viel zu verdanken.
Kreitz bedankte sich für die wohlwollenden Worte, richtete im Gegenzug
einige Worte an die Gäste: Er habe vieles erlebt, einiges gelernt
und viel mehr vergessen, hinterlässt er leger gesprochen. Nach dem
Abschiedsessen wechseln seine Nachbarn am Tisch. Jeder und jede möchte
mit ihm, bevor der Abend zu Ende geht, einige Sätze wechseln und mit
ihm anstoßen, ihm das Beste im weiteren Lebenslauf wünschen.
Frühere und gegenwärtige Kolleginnen und Kollegen sind darunter,
Parlamentsabgeordnete, die den Kreitz als tüchtig kennengelernt hatten.
Einige Freunde waren geladen worden.
Schließlich sitzt er einen Augenblick alleine an seinem Tisch.
Ein jüngerer Mann setzt sich vor ihn. Er kennt den Burschen aus der
Distanz, schaut ihm freundlich entgegen. Der schaut den Älteren prüfend
an, sagt in einem Kreitz gehässig erscheinenden Ton: „Verwachsen mit
dem Verband sollen Sie sein. Eingewachsen wie ein kranker Nagel stimmt
wohl eher. Es wurde Zeit, dass Sie hier verschwinden, Kreitz.“ Er blickt
den Älteren, wie der meint, mit Abneigung in den Augen an: „Ein dreckiger
Zigeuner wie Sie hatte unter uns nun wirklich nichts verloren.“
Der Jüngere spricht diese Sätze ruhig aus. Klar und deutlich,
nichts Verwaschenes im Ausdruck. Angetrunken ist er nach Kreitz Eindruck
nicht. Er bleibt höflich und bürgerlich beim Sie. Er fährt
fort: „Tatsache ist, dass ein dreckiger Zigeuner sich in einen angesehenen
Verband gemogelt hatte. Das hätte nicht passieren dürfen. Wie
Sie das angestellt haben, weiß ich nicht.“
Kreitz will etwas entgegnen, ihm versagt die Stimme. Er schaut über
seinen Tisch und den Kerl hinweg in den Saal. Wenige Meter entfernt steht
Dahmen, ein Büroangestellter, der vor ihm ausgeschieden ist. Eine
junge Frau geht vorbei, stutzt, geht weiter. Dahmen beobachtet ihn und
den Kerl, dreht sich um, entfernt sich.
„Schon mein Großvater“, erklärt der Jüngere, „wollte
mit Ihrer Sippe und vor allem mit Ihrem Vater aufräumen. Er kam aber
nicht dazu. Das ist nicht vergessen.“
Als er sieht, dass Kreitz ihn verblüfft mit geweiteten Augen anschaut,
während die Schultern sacken, schickt er hinterher: „Man hätte
Sie viel früher rausschmeißen sollen. Leute wie Sie taugen nicht.
Denken Sie immer daran: Wir wissen über Sie Bescheid. Auch im Verband.“
Er steht auf, schiebt seinen Stuhl zurück, beugt sich Kreitz zu, als
wolle er noch etwas sagen, dreht sich jedoch abrupt um und verlässt
den Tisch, an welchem Kreitz sitzt.
Niemand außer Kreitz scheint zu begreifen, was sich da abspielt.
Gespräche werden nicht unterbrochen, es wird gelacht, geprostet, so
wie das während gelingender Abende ist. Man merkt kurze Zeit später,
dass sich Kreitz´ Verhalten ändert, dass er blass geworden ist,
abwesend wirkt. Es sei Zeit für ihn, nach Hause zu fahren und zu Bett
zu gehen, antwortet er auf eine besorgte Frage. Ein Freund, Johannes Pflüger,
begleitet ihn zur wartenden Taxe. „Bist du in Ordnung, Theo?“, fragt er.
„Es ist alles in Ordnung“ antwortet Kreitz, „ich bin offenbar doch nicht
so auf dem Damm, wie ich dachte. Das ist alles.“
„Soll ich mit dir fahren?“, fährt Pflüger fort.
„Ist wirklich nicht nötig“, entgegnet Kreitz. „Hab Dank, ich melde
mich morgen bei dir.“ (...)
Klaus Vater: Kleine Furcht - Roman
Hardcover, 128 Seiten, 19,80 €, Oktober 2023, ISBN 978-3-949979-45-3
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Maria und Eusébio
02 Igreja de Santo Condestável (Nach Lissabon)
Bereits in der Abflughalle war er mir aufgefallen. Ich war nervös.
Mein erster Flug. Eine ungewisse Zukunft in einem mir fremden Land.
Fast dieselbe Hautfarbe wie ich, dachte ich, als ich ihn sah. Nicht
ganz Moçambique, aber auch nicht Portugal. Irgendwo dazwischen.
Nicht wie die anderen, die auf das Flugzeug warteten. Die weißen
Portugiesen. Offiziere, Geschäftsleute, die Reichen, die Wichtigen.
Fast ausschließlich Männer.
Ich fühlte mich so allein, so klein. Diese vornehmen Menschen,
die sich so sicher bewegten. Die wussten, was sie taten und sagten. Ich
gehörte nicht hierher.
Er hatte ebenfalls einen Anzug an, sah darin aber aus, als wäre
er verkleidet. Auch ich kam mir wie verkleidet vor. Herr da Maia hatte
mich neu einkleiden lassen. „Damit ich mich nicht für sie schämen
muss“, hatte er meiner Mutter geschrieben und einen Scheck beigelegt.
Seine großen, ausdrucksvollen Augen. Er war nervös wie ich.
Ich beobachtete ihn verstohlen. Mehrmals hintereinander knöpfte er
seine Anzugsjacke auf, dann wieder zu. Er strich sich über die Haare,
holte einen Kamm aus der Innentasche des Jacketts und kämmte sich.
Sah sich dabei in einer Fensterscheibe an, benutzte die Fensterscheibe
als Spiegel.
In welcher Lissabonner Familie wird er wohl arbeiten?, fragte ich mich.
Und als was? Als Fahrer oder als Hausdiener? Gärtner vielleicht? Zu
weiteren Überlegungen reichte meine Phantasie nicht aus. Wie viele
Angestellte in so einer vornehmen Familie arbeiteten? Ich wusste es nicht.
Im Flugzeug kam ich neben einem älteren Mann zu sitzen, der kurz
aufschaute und sofort wieder wegblickte, als er mich gesehen hatte. So,
als ob es sich nicht lohnte, mich eines weiteren Blickes zu würdigen.
Er hatte registriert, dass ich nicht wichtig war. Nicht für ihn.
Ich hatte einen Sitz in der Mitte. Der Platz links von mir blieb vorerst
frei. Bis er kam. Ich sah ihn den Gang entlang auf mich zukommen und wusste,
oder habe ich mir das später zurechtgelegt?, dass er nicht weitergehen,
sondern neben dem leeren Sitz stehen bleiben würde.
Sein verlegenes Lächeln, als er sich schließlich neben mich
setzte. Ich sah es aus den Augenwinkeln, traute mich nicht ihn anzuschauen.
Er grüßte schüchtern. Ich erwiderte seinen Gruß ebenso
schüchtern.
Nach dem Anschnallen wagte ich es zunächst nicht, meinen Arm auf
die linke Armlehne zu legen. Auf die rechte erst recht nicht. Als ich endlich
den Versuch wagte, hatte er gleichzeitig seinen rechten Arm auf die Lehne
gelegt. „Entschuldigung“, kam es prompt von uns beiden. Ich nahm meinen
Arm zurück, er den seinen. Starr blickte ich auf den Sitz vor mir,
während ich überlegte, wie ich ein Gespräch mit ihm anfangen
könnte.
Nach ein paar Minuten sah ich vorsichtig nach links, um herauszufinden,
wo sein Arm sich befand. Er bewegte seinen Kopf ebenfalls in meine Richtung.
Als ich das bemerkte, blickte ich sofort wieder nach vorn.
Ein paar Minuten später bewegte sich sein Kopf wieder in meine
Richtung. Jetzt konnte ich mich nicht mehr halten. Ich prustete los. Ich
lachte und lachte, als ob ich mit dem Lachen meine Schüchternheit
in Moçambique zurücklassen könnte.
Ich hörte erst wieder auf, als der Mann rechts von mir indigniert
bemerkte: „Es gibt Menschen, die nicht zu ihrem Vergnügen unterwegs
sind. Ich muss arbeiten. Ich bitte nachdrücklich, das zu berücksichtigen.“
Während er das sagte, hatte er ohne aufzublicken weiter in seinen
Papieren geblättert, die er auf dem Schoß liegen hatte.
„Entschuldigung“, sagte ich, dieses Mal nach rechts gewandt. Und – um
nicht wieder zum Lachen genötigt zu werden – zu dem Mann zu meiner
Linken: „Ich heiße Maria.“
„Eusébio“, sagte er und verbeugte sich etwas in meine Richtung.
„Sie dürfen Ihren Arm ruhig auf die Armlehne legen“, fügte er
hinzu.
„Danke“, sagte ich. „Werden Sie auch in Lissabon arbeiten?“ Und, als
er nicht gleich antwortete: „Ich habe eine Arbeit als Kinder- und Hausmädchen
bekommen.“
„Arbeiten soll ich auch, ja“, sagte Eusébio. „Als Fußballspieler.“
„Als Fußballspieler?“, fragte ich ungläubig. „Bekommen Sie
Geld fürs Fußballspielen?“
„Das haben sie meiner Mutter versprochen. Sie hat schon einen Vorschuss
bekommen. Wir mussten ja einen Anzug und einen Koffer kaufen.“
„Bei welchem Verein werden Sie spielen?“
Wieder zögerte Eusébio mit seiner Antwort.
„Ich dachte, bei Sporting“, antwortete er schließlich. „Ich habe
für Sporting Clube de Lourenço Marques gespielt. Die arbeiten
mit Sporting Lissabon zusammen. Aber …“
„Was aber?“, fragte ich.
„Kurz vor dem Abflug sagte mir meine Mutter, dass Benfica auch interessiert
sei. Das Geld für den Anzug und den Koffer sei nämlich von Benfica.
Ich solle einfach mal abwarten, wer mich abholt.“
„Das heißt, Sie wissen gar nicht, wer Sie abholt und wo Sie spielen
werden?“
„Nein“, kam es zögernd zurück.
Hatte er Angst vor der Zukunft, wie ich auch? Ich nahm es an. Was wusste
denn ich von Herrn da Maia? Dass er der Bruder des Mannes war, bei dem
meine Mutter seit Jahren als Köchin arbeitete. Dass er der Inhaber
einer Privatbank war. Seit ein paar Jahren verwitwet, zwei Kinder.
Eusébio berührte mich am Arm.
„Warum weinst du?“
Ich öffnete die Augen.
„Entschuldigung“, sagte ich, zum dritten Mal innerhalb weniger Minuten,
und wischte mir die Tränen ab. Hatte er gerade du gesagt?
„Ich habe ein bisschen Angst. Angst vor der Aufgabe. Ich soll im Haushalt
einer reichen Familie arbeiten. In Lissabon. Ich war noch nie weg von Lourenço
Marques. Von meiner Mutter, den Geschwistern, meinen Freunden, den Nachbarn.
Alles wird neu sein.“
„Warum gehst du nach Lissabon?“
„Meine Mutter hat gesagt, dass es eine große Chance für mich
sei. Ich könne arbeiten, Geld verdienen. Und sie müsse ein Kind
weniger versorgen.“
„Hast du keinen Vater?“
„Er ist vor ein paar Jahren gestorben.“
Als Eusébio nicht mehr antwortete, sah ich zu ihm hinüber.
Jetzt war er es, der Tränen in den Augen hatte.
„Was ist?“, fragte ich.
„Meiner auch“, sagte Eusébio. „Mein Vater ist auch gestorben.
Als ich noch ein kleines Kind war. Ich habe viele Geschwister, ältere
und jüngere. Für unsere Familie ist es eine Riesenchance, dass
ich nach Lissabon komme und mit Fußball mein Geld verdiene.“
Beim Wort Fußball hatte sein Gesicht kurz aufgeleuchtet. Jetzt
war es wieder ernst und traurig.
„Ich vermisse ihn“, sagte er.
Ich wusste, wen er meinte. Ich vermisste ebenfalls meinen Vater.
„Da haben wir ja etwas gemeinsam“, sagte ich, ohne besonders darüber
nachzudenken, was ich da gerade sagte.
Eusébio berührte meinen Arm. Nur ganz leicht.
„Ja“, sagte er. „Vielleicht sogar mehr als das.“
Ich hätte ihn küssen können für diesen Satz. Doch
statt Eusébio zu küssen, wurde ich rot und starrte auf meine
Hände, die ich in den Schoß gelegt hatte.
Zum Glück sprach er einfach weiter, als ob er nicht gesehen hätte,
wie verlegen er mich gemacht hatte.
„Es ist schön, dass wir uns getroffen haben. Als ich mich von meiner
Mutter, meinen Geschwistern, meinen Freunden verabschiedet hatte, war mir
plötzlich klar, dass ich von da an ganz allein war. Und das kurz vor
Weihnachten. Wir sind katholisch, und Weihnachten war für uns immer
das wichtigste Fest des Jahres.“
„Merkwürdig, so etwas Ähnliches habe ich vorhin auch gedacht,
als ich in den Wartesaal ging.“
„Gar nicht merkwürdig“, sagte Eusébio. „Wir sind uns eben
ähnlich.“
Ich nahm seine Hand und drückte sie leicht. „Das hast du schön
gesagt.“ Jetzt ging mir das du, das ich bislang vermieden hatte, ebenfalls
ganz leicht über die Lippen.
Warum hatte der Flug von Lourenço Marques nach Lissabon nicht
ewig dauern können? Viel zu früh kündigte der Flugkapitän
im Lautsprecher die Landung an.
Eusébio und ich hatten uns, nachdem einmal das Eis gebrochen
war, so intensiv unterhalten, wie ich es niemals zuvor mit einem Jungen
getan hatte. So kam es mir jedenfalls vor. Es war, als ob wir uns schon
lange kannten, gut kannten, sehr gut.
Wir gingen nebeneinander zur Gepäckausgabe, warteten nebeneinanderstehend
auf unsere Koffer. Eng nebeneinander gingen wir zum Ausgang, als ob wir
das Unbekannte, das vor uns lag, so besser bewältigen könnten.
In der Ankunftshalle wartete der Fahrer von Herrn da Maia, hatte ich zu
wissen bekommen. Er werde ein Schild mit meinem Namen in der Hand halten,
stand in dem Brief, den meine Mutter bekommen hatte.
Ich sah das Schild. Ich sah den Mann, der es hielt und der eine Art
Uniform trug.
„Jetzt werde ich abgeholt“, sagte ich und blieb stehen.
Eusébio hatte seinen Koffer abgesetzt und schaute sich suchend
um.
Zwei Männer lösten sich aus der Menge der Wartenden und gingen
auf ihn zu. „Ich offensichtlich auch“, sagte Eusébio. „Ich weiß
immer noch nicht, von wem.“
„Sehen wir uns wieder?“, fragte ich.
Er sah mir in die Augen.
„Ich hoffe es“, sagte er.
„Möchtest du denn?“
„Ja“, sagte Eusébio, ohne zu zögern. „Ja, sehr gern.“
Und schon im Weggehen, einer der Männer hatte seinen Koffer genommen,
der andere ihn leicht am Arm gefasst, wohl um ihm die Richtung anzuzeigen:
„Besuch mich doch.“
„Aber wo soll ich dich suchen?“
„Im Stadion.“
„Sou tua“, sagte ich, während er davon ging. Oder dachte ich es
nur? Sagte ich es zu mir selbst? „Ich bin dein.“
Im Weggehen blickte er noch einmal nach mir zurück. Kurz darauf
war er verschwunden. (...)
Michael Longerich: Maria und Eusébio
316 Seiten, Hardcover, 22,00 €, Januar 2022, ISBN 978-3-947759-91-0
Das Buch portofrei bestellen
heute und nicht
gestern
Es wäre alles anders gekommen, wenn sie nicht kurz entschlossen
das Antiquariat an der Ecke der Straße aufgesucht hätte, um
nach einem Geschenk für Gregor zu suchen. Der Besitzer des kleinen
Ladens kannte sie kaum, ihren Mann dafür umso besser, da Gregor gern
nach der Arbeit bei ihm vorbeischaute, immer auf der Suche nach einer besonderen,
möglichst frühen Ausgabe seiner Lieblingsschriftsteller. Die
beiden tranken einen Kaffee zusammen, unterhielten sich über das Weltgeschehen
und natürlich über Neueingänge, und Gregor kam immer mal
wieder mit einem »echten Fund« nach Hause, obwohl die Bücher
schon in Zweierreihen im Regal standen. Platz für Bilder, die sie
gern aufgehängt hätte, musste sie sich erkämpfen, da sich
die Bücherwände inzwischen durch alle Räume zogen. Ganz
zu schweigen von den Kisten, die im Keller verstaubten. »Sei froh,
dass er die Fenster nicht zustellen kann«, hatte Gregors Freund Matthias
sie eines Tages zu trösten versucht. »Und wenn du mal unter
Klaustrophobie leidest, zieh einfach zu mir.«
»Mein Mann wird sechzig«, sagte Vera, nachdem sie sich bei
Herrn Braun vorsichtshalber noch einmal vorgestellt hatte. Schließlich
war es Monate her, dass sie ihn auf dem Bonner Markt kennengelernt hatte,
wo er hinter Gregor und ihr am Gemüsestand wartete. Sein etwas unsicherer
Gesichtsausdruck verriet ihr, dass er sich nicht an sie erinnerte. »Haben
Sie vielleicht etwas ganz Besonderes für ihn? Etwas, über das
er sich freuen würde?«
Herr Braun strich sich nachdenklich über das Kinn. Dann schaute
er sie über den Brillenrand fragend an, als ob er überlegte,
in wie weit sie mit ihrem Mann die Begeisterung für alte Bücher
teilte. Sie war schon im Begriff zu sagen: »Mir ist ein schöner
Einband wichtig«, wusste aber, dass sie mit diesem Satz sofort in
die Kategorie der Nichtkenner eingeordnet werden würde. Also sagte
sie, um auf der sicheren Seite zu sein: »Sie kennen doch die Vorlieben
meines Mannes.«
»Nun ja, Frau Baumeister«, der Antiquar schob seine Hände
in die Taschen seiner verbeulten Cordhose und nahm sie langsam wieder heraus.
Traute er sich nicht, einen Vorschlag zu machen? »Ich hätte
da eine frühe Gesamtausgabe von Balzac, dreißig Bände,
ledergebunden.« Er machte eine Pause, wollte sich wohl vergewissern,
ob es sich lohnte weiterzureden. »Ihr Mann hat schon oft einen sehnsuchtsvollen
Blick auf diesen Schatz geworfen.«
Dreißig Bände! Sie wollte Gregor gern eine Freude machen,
aber dreißig Bände bedeuteten ein neues Regal und noch weniger
Platz in der Wohnung. Die Bücherreihen würden sie eines Tages
erdrücken. Die Romane von der Bestsellerliste, die sie selbst mit
Vorliebe las, lehnte Gregor rundweg ab. »Das Papier nicht wert«,
war er überzeugt. Es wäre ihr nie in den Sinn gekommen, diese
Romane neben seinen Molière oder Cervantes zu stellen, aber sie
nach dem Lesen einfach zu »entsorgen«, wie Gregor es ihr empfahl,
das konnte sie nicht. Schließlich hatten diese Bücher sie ein
paar Nächte lang gut unterhalten, hatten ihr manchmal sogar neue Welten
erschlossen.
»Ich würde mich gern einmal selbst umsehen«, sagte
sie, um nicht auf die dreißig Bände eingehen zu müssen.
»Bitte sehr. Die ganze hintere Wand dürfte Sie interessieren.«
Braun warf ihr einen fragenden Blick zu, als müsse er etwas überlegen,
dann verschwand er hinter seinem bücherbeladenen Schreibtisch, nahm
seine Brille ab und putzte sie bedächtig mit einem Taschentuch. Seine
Besucherin schien er vergessen zu haben.
Es kam Vera so staubig in dem Raum vor, dass sie schon bedauerte, den
Laden überhaupt betreten zu haben. Obwohl draußen die Sonne
schien, brannten zwei Deckenlampen, da auch die Fenster bis zur halben
Höhe mit Kisten zugestellt waren. Wie konnte man es den ganzen Tag
hier aushalten? Sie würde sich beeilen, um diesem Geruch von Vergänglichkeit,
den sie bei all den Werken der größtenteils verstorbenen Dichter
und Denker zu spüren vermeinte, zu entkommen.
Einige besonders kunstvoll gestaltete Einbände zogen ihre Aufmerksamkeit
auf sich. Shakespeare in glänzend grünem Leder, französische
Romantiker in graublau gemustertem Leinen, Nikolaus Lenau mit wunderschönen
Jugendstilornamenten. Für Gregor waren Inhalt, Einband und Nummer
der Ausgabe drei Kriterien, die sich in seiner Sammelleidenschaft nicht
voneinander trennen ließen, während für Vera, wenn sie
ehrlich war, das äußere Erscheinungsbild seiner Bücher
an erster Stelle kam. Schließlich sah sie sich seine Kostbarkeiten
meistens nur von außen an, und da sollten sich wenigstens ihre Augen
an dem ganzen hochgeistigen Gedankengut erfreuen können.
Sie hielt gerade einen Gedichtband von Annette von Droste-Hülshoff
in der Hand, Goldschnitt, Einband mit Goldprägung, als ihr Blick auf
einige in ihrer Schlichtheit beeindruckende Buchrücken fiel. Theodor
Fontane, Gesamtausgabe der erzählenden Schriften in neun Bänden
las sie. Das war es! Fontane war einer von Gregors Lieblingsschriftstellern.
Neun Bände, das bedeutete ein halbes Regalfach. Das musste sie ihm
zum sechzigsten Geburtstag wohl zugestehen.
Sie öffnete aufs Geratewohl den ersten Band. Frakturschrift,
wie nicht anders zu erwarten. Wenn Besuch von der Universität da war,
brachte sie manchmal nebenbei einen Fachausdruck im Gespräch unter,
als könnte sie mitreden, wenn sie wollte. Die Fachwörter hatten
sich ihr durch Gregors ständiges Wiederholen eingeprägt, nicht
durch gemeinsames Interesse. Sie hatte längst gelernt, nur mit halbem
Ohr zuzuhören, wenn Gregor sich begeistert über einen neuen Band
ausließ. Dann nickte sie hin und wieder an passender Stelle und erinnerte
ihn daran, dass der Platz in der Wohnung knapp wurde.
Sie blätterte zurück auf die erste Seite, um zu sehen, ob
dort vielleicht der Name des ehemaligen Besitzers stand – meistens in Schönschrift
oben in der rechten Ecke. Oder ob es vielleicht eine Widmung gab: für
die liebe Elli von Hans oder meinem Wilhelm zum Geburtstag, Deine Mutter.
Gregor hatte ihr einmal eine Widmung gezeigt, die ihr bestens gefiel, ihn
aber fast davon abgehalten hätte, das Buch zu kaufen: Lieber
Wilfried, zur Erinnerung an unsere Wiese. Deine Luise. »Unsäglich«,
hatte Gregor gesagt, während Vera sich vor Lachen fast verschluckte.
Sie stutzte. Auf dem Deckblatt standen gleich zwei Eintragungen, und
das in unterschiedlichen Schriftzügen. Am oberen Rand der Seite las
sie mit Tinte geschrieben in gestochener Fraktur Paul Anholt, Münster
1929. Außer der selbstbewussten Schrift nichts Besonderes. Auf der
unteren Hälfte allerdings etwas Ungewöhnliches, ein Gedicht,
mit Filzstift geschrieben ? sie sah Gregor schon zusammenzucken ?, noch
dazu mit unregelmäßigen Wortabständen und in unterschiedlicher
Größe, so als käme es nicht auf die äußere Form
an. Voller Neugier begann sie zu lesen.
Die Frage bleibt
Halte dich still, halte dich stumm,
Nur nicht forschen, warum? Warum?
Nur nicht bittre Fragen tauschen,
Antwort ist doch nur wie Meeresrauschen.
Wie’s dich auch aufzuhorchen treibt,
Das Dunkel, das Rätsel, die Frage bleibt. (Theodor Fontane)
Deine Sanne
Bonn, den 26. Januar 1988
Wie kam jemand dazu, so ein dunkles Gedicht auf die erste Seite eines
Buches zu schreiben?
Ein leichtes Unbehagen ließ Vera den Deckel zuklappen, aber wie
durch einen Zwang blieb sie vor den neun Bänden stehen. Gregor würde
sich über den Filzstift und die »Verschandelung« des Deckblatts
aufregen, sich aber gleichzeitig über die schöne Ausgabe freuen.
Wie sollte sie sich entscheiden? Die Bände liegen lassen? Ein besseres
Geschenk würde sie nicht finden, da war sie sich sicher.
Das Dunkel, das Rätsel, die Frage bleibt. Was meinte diese Sanne
damit? Und an wen war die Frage gerichtet? An einen Mann, das war leicht
zu erraten. Obwohl, es konnte auch eine Frau sein, der die Zeilen galten.
Der Beschenkte hatte den Text jedenfalls verstanden, weil ihn etwas mit
Sanne verband. Sanne, ein ausgefallener Name. Oder war es einfach die Abkürzung
von Susanne, was sich gleich viel weniger extravagant anhörte. Vielleicht
kannte Herr Braun diese Frau und konnte etwas über sie erzählen.
Immerhin hatte sie die Zeilen in Bonn geschrieben.
Sie rief sich zur Ordnung. Es ging nicht um Sanne oder Susanne, sondern
darum, ob sie die Fontanebände trotz des gekritzelten Gedichts kaufen
sollte.
»Hätten Sie einen Moment Zeit, Herr Braun?«
Der Antiquar machte keinen begeisterten Eindruck, dass ihn jemand störte,
war aber Geschäftsmann genug, um das Buch, das er in der Hand hielt,
zur Seite zu legen. »Haben Sie sich für den Fontane entschieden?«
»Ja, aber…«
»Eine gute Wahl. Ihr Mann wird sich freuen.«
»Ja, aber es gibt da ein kleines Problem. Das Gedicht auf dem
Deckblatt.« Sie zeigte auf den Text. »Filzstift. Und dann die
krakelige Schrift.«
»Ich weiß, ein Frevel, aber die Bände sind trotzdem
ihr Geld wert. Ich könnte Ihnen einen kleinen Nachlass geben.«
(...)
Maria Uleer: heute und nicht gestern
344 Seiten, Hardcover, 18,00 €, Juni 2021, ISBN 978-3-947759-75-0
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Das teutsche
Wörterbüchlein
C
CDU, die (Sg.):
Akronym für Christlich Demokratische Union Deutschlands. (Noch)
zweitgrößte politische Partei in Deutschland. Selbstbeschreibung:
»Volkspartei der Mitte«. Hobby: den Kanzler/die Kanzlerin stellen.
Versteht sich als politische Heimat konservativ denkender Mittelständler,
die zu unbegabt oder zu skrupulös sind, Orthopäde oder Architekt
zu werden, und daher in der FDP nichts zu suchen haben, denen es andererseits
aber viel bedeutet, ihr Land vor den verheerenden Ideen und Plänen
der Sozialdemokraten zu bewahren. Unauflöslich verzankt mit der Schwesterpartei
CSU in so gut wie allen politischen Fragen, Einigkeit besteht jedoch bezüglich
eines grundsätzlichen Argwohns gegenüber Homo-, Trans- und Metrosexuellen,
Vegetariern sowie Sozialdemokraten.
Bildete mit Letzteren gleichwohl mehrfach Regierungskoalitionen, während
derer Kanzlerin Merkel vorführte, wie man Sozen einseift. Koaliert
notgedrungen auch mit den Grünen, weil die immerhin auch Leute wie
Kretschmann haben. Koaliert eigentlich am liebsten mit der FDP. Die aber
findet die CDU mittlerweile zu sozialistisch.
China:
auch »Reich der Mitte« genannt; extrem bevölkerungsreicher
Staat in Ostasien. Spezialisiert darauf, braven westlichen Erfindern ihre
Erfindungen zu klauen, diese billig nachzuproduzieren und so europäische
und transatlantische Märkte kaputtzumachen.
Selber haben die Chinesen kaum etwas Bedeutendes erfunden – außer
das Papier, den Buchdruck, 100.000 Schriftzeichen, den Kompass, einige
Kampfsportarten, die Kulturrevolution, das Schwarzpulver sowie vor Kurzem
das Sozialpunktesystem. Dieses nun würden einige brave EU-Staatschefs
(z.B. Orbàn in Ungarn) schrecklich gern abkupfern. Und wer weiß,
vielleicht haben sie damit schon begonnen.
Chemie, die (Sg.):
sehr, sehr böse Naturwissenschaft, die sich mit dem Aufbau, den
Eigenschaften und der Umwandlung von Stoffen beschäftigt, z.B. mit
der Umwandlung von Chlor in Hähnchen. Bei Chemielehrern, Dealern,
Pharmafirmen und anderen zweifelhaften Berufsgruppen ist sie beliebt, für
Heilpraktiker, Veganer und Anthroposophen ist sie das Werk des Satans.
CO2, das (Sg.):
Kohlenstoffdioxid (kurz: CO2) nennt man auch Treibhausgas, weil es
ein fruchtbares Klima erzeugt. Es ist ein natürliches Nebenprodukt
der Zellatmung vieler Lebewesen; auch der Zerfall toter Organismen oder
natürliche CO2-Quellen (Vulkangase) setzen Kohlenstoffdioxid frei.
Es kommt folglich in großen Mengen in der Erdatmosphäre vor.
Zusätzliche Mengen CO2 entstehen bei der Verbrennung von Holz, Kohle,
Öl oder Gas. Da die Menschheit pausenlos Holz, Kohle, Öl oder
Gas abfackelt, ist das ziemlich viel. Einmal in die Atmosphäre abgesondert,
baut sich CO2 leider nicht selbst ab. Das führt dazu, dass das Klima
irgendwann (könnte ziemlich bald sein) nicht mehr fruchtbar ist, sondern
furchtbar, weswegen es ratsam scheint, dass wir uns schleunigst nach einem
anderen Planeten umsehen, den wir besudeln, pardon, besiedeln können.
(...)
Gitta List: Das teutsche Wörterbüchlein
84 Seiten, Hardcover, 12,00 €, August 2021, ISBN 978-3-947759-82-8
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Die Anführerin
Kapitel I: Beethoven -Bonn, September
1940
»Kinder, Ruhe jetzt!«
Fräulein Marx versuchte, ihre würdevolle Miene aufrechtzuerhalten.
Wie immer scheiterte der Versuch daran, dass ihre Mundwinkel beim Beobachten
der Possen ihrer Schüler zuckten. Wie sehr liebte sie es doch, dass
die Kinder trotz der harten Zeiten ihr Lachen nicht verloren. Aber Pflicht
war nun einmal Pflicht! Um ihr Grinsen zu verdecken, schob sie ihre viel
zu groß wirkende Brille auf der schmalen Nase in ihrem noch jungen
Gesicht zurecht. Ebenso beiläufig wie unnötig überprüfte
sie den korrekten Sitz ihres Dutts. Um die Aufmerksamkeit der Schüler
ihrer Quinta wiederzuerlangen, ließ sie mit aller ihr zur Verfügung
stehenden Kraft, die zum Glück nicht allzu groß war, ihren Geigenbogen
auf den vorderen Tisch sausen. Der Knall sorgte für das gewünschte
Resultat. Zumindest für eben jenen Moment, den sie benötigte,
um in den Geist der Kinder vorzudringen.
»Ihr seid Bonner«, sprach sie sanft aber fest, zupfte dabei
erneut an ihrer Brille herum, »und als solche ist es eine Pflicht,
die Werke Beethovens zu kennen. Wir besprechen heute seine 5. Symphonie.
Prägt sie euch gut ein, sie ist gerade in diesen Tagen besonders wichtig!«
Marie saß in der vorletzten Reihe des kleinen Klassenzimmers und
drückte sich auf dem bereits in die Jahre gekommenen Holzstuhl herum.
Sie legte den Kopf auf ihre Arme und lauschte gebannt, beinahe andächtig,
den Klängen, die aus der Violine ihrer jungen Lehrerin zu den Schülern
drangen. Es umgab sie wie ein Zauber, wenn die Töne mal hart und abgehackt,
mal weich und umschmeichelnd die Luft vibrieren ließen.
Wie eine absurde Kakophonie durchbrach plötzlich die Schulklingel
das Gespinst der Geigenklänge in Maries Kopf und schrillte das Ende
des Tages herbei. Fräulein Marx wurde jäh unterbrochen, und
ihr mildes Lächeln, mit dem sie ihre Schüler entließ, vermochte
nicht den Wunsch zu verdrängen, den Marie verspürte, ihr weiter
lauschen zu dürfen.
Fräulein Marx beendete den Unterricht, und die johlende Schülermeute
stürmte in ihren Nachmittag. Auch Marie erhob sich. Widerwillig; stob
aber nicht ihren Mitschülern nach, sondern ging auf das Pult zu, hinter
dem Fräulein Marx ihre Violine und die restlichen Unterrichtsmaterialien
einsortierte.
Marie druckste etwas herum, als ihre Lehrerin sie lächelnd ansah.
»Das war wunderschön! Dürfen wir bald noch etwas von
Ihnen hören?«
Fräulein Marx lachte ein wenig verlegen. »Aber gerne, Mariechen!
Es freut mich, wenn dir Beethoven gefallen hat.«
Marie lächelte dankend und winkte ihrer Lehrerin zum Abschied zu.
Auf dem Weg hinaus aus der Schule dachte sie über Beethoven nach.
Die Treppe hinunter.
Er kam ja aus Bonn. Genau wie sie. Sie dachte an den immer grimmig dreinblickenden
Mann mit der komischen Kleidung, der sie jedes Mal auf dem Münsterplatz
ansah, wenn sie an dem Denkmal vorbeiging. Früher musste sie mehr
Treppen hinunter gehen, wenn die Schule aus war. Aber jetzt … Jetzt fand
der Unterricht nur noch im Erdgeschoss und im Hochparterre statt. Jetzt,
ja jetzt war alles anders.
Wie konnte dieser grimmige alte Mann es schaffen, sie mit solch weichen
Tönen zu umgarnen, sie so zu faszinieren?
Hinaus, die Straße entlang, über den Adolf-Hitler-Platz in
die Sternstraße. Warum nur war alles anders? Sie spürte es überall.
Aber niemand redete mit ihr darüber. Krieg. Ja. Aber warum nur?
Marie liebte ihre Stadt. Liebte ihre Sternstraße. Gut, sie hatte
in ihren zwölf Jahren noch nichts anderes gesehen, aber sie war sich
sicher, dass alles andere nur schlechter sein konnte als Bonn und als ihre
Sternstraße.
Dicht waren die Häuser hier aneinander gebaut. Mittelalterliche
Fundamente, die in jeder Epoche mit den ihr eigenen Stilmitteln neu aufbereitet
worden waren, verströmten zusammen mit dem Kopfsteinpflaster einen
urigen, zeitlosen und harmonischen Hauch in der alten Innenstadt Bonns.
Welche unbeschreiblichen Ereignisse, welche unerhörten Geheimnisse
hatten diese Gebäude und Straßen im Laufe der Jahrhunderte –
ja, Jahrtausende – schon erlebt?
Marie lief die Sternstraße entlang, ihr kleiner Lederranzen hüpfte
im Takt mit ihren schulterlangen roten Locken auf und ab. Sie grüßte
im Vorbeisausen ihre Nachbarn, die Kisten auf die Straße stellten.
Sie mussten die Keller ausräumen. Platz schaffen. Wozu?
Endlich war sie am Haus Nummer 49 angekommen. Sie eilte die Treppe des
schmalen Gebäudes hinauf und stürmte in die kleine Wohnung im
Dachgeschoss.
»Langsam, langsam!« Ihre Mutter, eine kleine dunkelhaarige
Frau, die den Eindruck machte, dass sie fortwährend grinste, sah Marie
erschrocken an. »Was hast du es denn so eilig?«
»Ich muss gleich zu Opa«, keuchte Marie außer Puste.
Ihre Mutter machte eine missbilligende Grimasse. »Vorher wird
gegessen. Und dann machst du erst Hausaufgaben! Und denk auch an den Appell,
es ist Mittwoch.«
Grummelnd ließ sich Marie an den Küchentisch unter dem Dachfenster
plumpsen, an dem provisorisch die ohnehin windschiefe Verdunkelung beiseitegeschoben
worden war. Abends musste sie wieder ganz akkurat angebracht werden, damit
kein Licht nach außen drang. So hatte es die Ortsgruppenleitung der
Partei angeordnet. Zu groß war die Gefahr, dass feindliche Bomber
die Beleuchtung der Stadt sahen. Aber was dann? Wieder durchfuhr Marie
diese dunkle Ahnung, die sie nicht greifen konnte. Egal.
»Was gibt‘s denn?« Die Aussicht auf eine warme Mahlzeit
ihrer Mutter ließ Marie den Unmut vergessen.
Ihre Mutter wuchtete einen großen Topf auf den Tisch. »Wirsing.«
»Schon wieder?« Enttäuschung machte sich breit.
»Wirsing ist billig und vor allem gesund. Also beschwer dich nicht,
du Prinzesschen!«
Marie unterdrückte ein Kichern und lugte in den großen Topf.
Das dürfte für ein paar Tage vorhalten. Sie waren ja nur zu zweit.
Na ja, eigentlich zu dritt, wenn man den Mitbewohner im Bauch ihrer Mutter
dazu zählte. Aber der würde erst in ein paar Monaten wirklich
da sein. Solange waren die Bewegungen ihrer Mutter eingeschränkt und
etwas behäbig, wie Marie gerade beobachten konnte, als die Schwangere
die Kartoffeln vom Ofen brachte.
Gierig nahm das Mädchen eine Gabel des Kohls.
»Kein Speck?«
Wieder das missbilligende Gesicht. »Miechen … Du weißt doch,
dass wir mit den Lebensmittelmarken haushalten müssen. Lass uns die
Fleischmarken lieber für etwas Schöneres aufheben als für
den Wirsing.« (...)
Stephan Schicke: Die Anführerin
- Ein Roman nach dem Kriegsbericht einer Bonner Zeitzeugin
328 S., Hardcover, 19,80 €, Dezember 2021, ISBN 978-3-947759-89-7
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